Selbstsorge in der Flüchtlingsarbeit

Geflüchtete haben Enormes geleistet und meist Schlimmes erlitten, bevor sie hier in Deutschland ankommen. Und dennoch werden sie u. a. durch unsere ihnen fremde Sprache, Gewohnheiten, Sitten, Gesetze, die Betreuung durch staatliche Stellen und manchen ehrenamtlichen HelferInnen in eine eher passive Rolle gedrängt und laufend zum Warten gezwungen: auf den Asylantrag, auf die Anhörung, auf ein Urteil, auf eine Wohnung, auf einen Arbeitsplatz, auf die Angehörigen, die nachziehen wollen usw. All das löst in mir, der/m HelferIn, normalerweise Mitleid aus und den Impuls, ihnen zu helfen, insbesondere, wenn ich ihnen unmittelbar begegne.

Bis zu welchem Umfang kann ich das leisten? Was gehört zu meiner Rolle als HelferIn, was nicht? Wo fängt es an, dass ich mich angesichts der nötigen Aufgaben überfordert fühle? Wo setze ich Geflüchteten und ihren Wünschen Grenzen?

Meine Motive als HelferIn

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, die auf mich individuell zugeschnitten sind, lohnt es sich, zunächst nach meinen inneren „Antreibern“, meinen Motiven zu fahnden: Was treibt mich an, wenn ich mich für Geflüchtete engagiere? Woran orientiere ich mich?

Orientiere ich mich eher an meinem eigenen Nutzen, meinen eigenen Bedürfnissen als HelferIn?

  • Geht es mir um Dank und Anerkennung meines Umfeldes ?
  • Tut es mir gut, wenn ich mich neben einem hilfsbedürftigen Geflüchteten mächtig und stark fühle - insbesondere wenn ich mich unter Deutschen sonst eher als klein oder unbedeutend erlebe?

So selbstbezogen das alles klingen mag, ich halte das ausdrücklich für durchaus normale Beweggründe; bei der einen Person mehr, bei der anderen weniger ausgeprägt vorhanden, sich selbst offen eingestanden oder nicht.

Oder orientiere ich mich eher am Nutzen des/der Geflüchteten?

  • Kenne und respektiere ich wirklich die Eigenarten und Ziele des/der Geflüchteten? In welchem Maße überforme ich diese Wünsche durch meine eigenen, die da hineinspielen?
  • Wo werde ich zur/zum kompromisslosen VerfechterIn unserer eigenen Kultur, von unserem Modell von Geschlechter-Gerechtigkeit und -Gleichheit, Erziehungsmethoden, „preußischen Tugenden“ usw. Schließlich soll mein „Schützling“ ja hier ankommen, sich hier mittelfristig integrieren!
  • Biete ich den Geflüchteten den „sicheren Ort“, den sie nach den u. U. traumatisierenden Erfahrungen in seiner Heimat und auf der Flucht dringend nötig haben, um ihre seelischen Verwundungen zu lindern?
  • Kann ich mich emotional abgrenzen von den Trauma-Erlebnissen der Geflüchteten, sodass ich nicht selbst von den schrecklichen Bildern überschwemmt werde, die ihre Erlebnisse in mir auslösen können? (sog. „sekundäre Traumatisierung“)

Wir HelferInnen brauchen wohl eine gesunde Mischung von beidem, dem eigenen Nutzen und dem der Geflüchteten. Die Frage nach dem „cui bono?“ (wem nützt es?) stellt sich immer wieder von Neuem in der praktischen Arbeit mit und für Geflüchtete. Es tut manchmal gut, innezuhalten und sich zu vergewissern, was mich da gerade antreibt: mein Perfektionismus? meine eigene Frustration über „die deutsche Bürokratie“? mein „Mutter-Theresa-Syndrom“? ... Und es kann gut sein, nach dieser Selbst-Erforschung, den einen oder anderen Arbeits-Impuls zu vertagen und eher das zu tun, was im Folgenden beschrieben wird.

Helfen als Last – problematische HelferInnen-Motive

Dort, wo das eigene Bedürfnis nach Bestätigung und Anerkennung so stark wird, dass ich vom Dank und der Zuwendung der/des Hilfsbedürftigen abhängig werde und auch dann noch helfe, wenn ich mich ausgenutzt und ausgelaugt fühle, da wird gutgemeintes Helfen zum Problem. Es schadet beiden: dem/der Helfenden selbst und dem/der HilfeempfängerIn.

Bei der übermäßigen Mühe um das Wohl der Anderen vernachlässigen HelferInnen ihre eigenen Bedürfnisse. Und wenn ihnen obendrein der Dank der HilfeempfängerInnen nicht ausreichend erscheinen, kann das in Vorwürfe und Bitterkeit umschlagen.

Die HilfeempfängerInnen andererseits werden durch diese Vorgehensweise voreilig von der Verantwortung für sich selbst entlastet. Sie versäumen so, frühzeitig eigene Fähigkeiten zu entwickeln, sich selbst zu helfen. Und sie sehen sich einem wachsenden Druck ausgesetzt, zum Dank verpflichtet zu sein, was Schuldgefühle weckt und die Beziehung belastet.

Folgende Symptome sind kennzeichnend für Menschen, die in einem solch problematischen HelferInnen-Modus arbeiten: Sie fallen durch ihre extrem hohe Bereitschaft auf, Aufgaben in Fülle zu übernehmen. Sie können nur schwer „nein“ sagen. Sie glauben sich dafür rechtfertigen zu müssen, wenn sie mal (!) ihren eigenen Bedürfnissen nachgehen wollen. Ganz generell halten sie die Welt für undankbar.

Ihre Verhaltensmuster können sich u. U. fatal auswirken: Sie schädigen sich selbst und ihre Gesundheit, sie vernachlässigen ihre Familienangehörigen, sie lehnen die Hilfe anderer ab, es entsteht eine Art (HelferInnen-)Suchtverhalten. Über einen längeren Zeitraum führt es zu Burn-out oder gar in eine depressive Verstimmung.

Grenzen finden und setzen

Es macht folglich Sinn, sich darüber klar zu werden, wo meine Komfort-Zone beim Helfen aufhört, wo das Gefühl der Überforderung einsetzen könnte, wo meine Angehörigen anfangen zu meutern, weil ich zu viel meiner Energie und Zeit den Geflüchteten widme. Schließlich ist der Sog stark, dass es nie genug zu helfen gibt angesichts der prekären Lebensumstände der Geflüchteten.

Benötigen die Geflüchteten Hilfe bei ...

… Übersetzungen, Antworten auf amtliche Schreiben, dem Ausfüllen von Formularen?

… der Besorgung von Artikeln aus dem Spendenlager?

… der Suche nach Sprachunterricht, einem Integrationskurs, Arbeit oder einer Wohnung?

… dem Dublin- oder Asylverfahren?

… dem Besuch einer ärztlichen Praxis oder eines/einer Rechtsanwaltes/-anwältin?

… der Vermittlung von Freizeitangeboten?

Und wenn ja, wie viel?

Wo können die Geflüchteten selbstständig entscheiden und handeln, brauchen also meine Unterstützung nicht? Wie viel Zeit kann ich höchstens pro Tag oder Woche für diese Arbeit einsetzen?

Wie weit schütze ich mein Privatleben? In welchem Maße lasse ich den/die Geflüchtete/n Teil meiner Familie werden? Wie viel Distanz brauche ich? Wie wahre ich sie? Z. B.: Treffe ich mich mit jenen, die ich betreue, nur in öffentlichen Räumen oder auch zu Hause? Wie bezeichne ich meine Rolle: PatIn? BetreuerIn? HelferIn? BegleiterIn? Oma/Opa? Papa/Mama? In jedem dieser Begriffe schwingt ein anderes Verhältnis zu dem/der Geflüchteten mit. Dabei werden auch Bedeutungsfelder dieser Worte herangezogen, die sich auf das Ausmaß und den Inhalt der Zusammenarbeit und das Zusammenleben auswirken können.

In der professionellen Sozialen Arbeit ist es üblich, Vereinbarungen zwischen helfender und hilfsbedürftiger Person zu schließen, in denen klar abgesprochen wird, welche Art und welchen Umfang die Hilfe maximal annehmen kann. Dazu zählt auch die Frage, was der/die HilfeempfängerIn selbst unternimmt, um die eigene Situation zu verbessern, sich also selbst als aktiv handelnde Person und im Rahmen der eigenen Möglichkeiten als verantwortlich für das eigene Schicksal wahrnimmt. Diese Art von „Vertrags-Verhältnis“ schützt vor zu viel emotionaler Nähe und vor unausgesprochenen und möglicherweise unerfüllbaren Erwartungen.

Ich kann HelferInnen nur empfehlen, Entsprechendes mit den Geflüchteten in ihrem Umfeld zu tun. Das trägt zu realistischen Erwartungen bei letzteren und zu der Selbstwahrnehmung bei den Helfenden bei: „Ich habe das Vereinbarte gemacht. Mehr verlangt niemand von mir. Ich kann mich entspannt zurücklehnen, mich meinem Privatleben widmen.“ Und es ist auch Grundlage für Verabredungen innerhalb der Familie, die von dem Engagement der helfernden Person berührt wird.

Sich Hilfe holen – Helfen ist Teamwork

HelferInnenkreise entwickeln im Laufe ihrer Geschichte meist eine zunehmend arbeitsteilige Organisation. Es bilden sich Teams, die sich jeweils für abgegrenzte Spezialaufgaben zuständig fühlen: Sammlung und Ausgabe von Sachspenden, Arbeitssuche, Begleitung im Asylverfahren, Wohnungssuche, Fahrrad-Reparatur, Freizeitangebote usw. Für die einzelnen HelferInnen stellen diese Teams eine gute Möglichkeit dar, sich von Teil-Verantwortungen und -Aufgaben durch Delegation zu entlasten.

Auch macht es durchaus Sinn, für die eigenen spezifischen Aufgaben, die sich nicht an solche Teams delegieren lassen, frühzeitig einen Abwesenheits-Stellvertretung zu suchen. Schließlich gibt es Zeiten, da ich nicht immer für andere da sein kann: Krankheit, Urlaub, um nur einiges zu nennen.

Wo die persönliche Grenze des Leistbaren überschritten wird, meldet sich häufig der eigene Körper mit Krankheitssymptomen, die den/die HelferIn „aus dem Verkehr ziehen“. Diesem „worst case“ versuchen wir mittels Fortbildungsveranstaltungen in unserem HelferInnenkreis vorzubeugen, in denen wir die Teilnehmenden dafür sensibilisieren, frühzeitig auf solche Signale zu achten und eher weniger oder das Bisherige auf eine effektivere Art zu tun.

In unserem Freundeskreis Asyl bremsen wir EinzelgängerInnen eher aus und fördern dafür Teamwork. Regelmäßig versammeln wir jene HelferInnen, die als sogenannte „PatInnen“ bestimmte Geflüchtete betreuen, und wir bieten kollegiale Fallberatung an.

Kollegiale Beratung als praktisches Unterstützungsangebot

Die Kollegiale Beratung dient einer Gruppe von KollegInnen dazu, in einem Gruppengespräch an einer Frage aus der (Hilfe-)Praxis gemeinsam zu beraten und zu einer Lösung dieses Problems zu gelangen. Dementsprechend gibt es in der Gruppe die „fallgebende Person“ mit einem Beratungsanliegen, die übrigen „BeraterInnen“ und eine Moderation, die vor allem auf eine bestimmte Reihenfolge der Arbeitsschritte achtet. Typische Beratungsanliegen sind Fragen nach scheinbar unverständlichen Verhaltensmustern von Geflüchteten aus fremden Kulturkreisen oder nach einem zielführenden Umgang mit als „schwierig“ erlebten deutschen Behörden.

Zweck der kollegialen Praxisberatung ist es, die Kreativität der ganzen Gruppe dafür zu nutzen, durch ein Brainstorming das Beratungsanliegen der fallgebenden Person aus anderen, neuen Perspektiven zu beleuchten. Solch ein Perspektiven-Wechsel erlaubt es, neue Lösungswege zu suchen, eine andere Einstellung der fallgebenden Person zur vorliegenden Problematik zu finden. Gelingt dies, fühlt sich die fallgebende Person meist sehr entlastet im Vergleich zu vorher.

Bei der kollegialen Fallberatung werden alle Gruppenmitglieder mit ihren je individuellen Vorerfahrungen als Co-BeraterInnen einbezogen, um zugunsten der fallgebenden Person ein möglichst Personen-unabhängiges Ergebnis mit einem möglichst breiten Spektrum an Beobachtungen und Einschätzungen zu erzielen. Die einzelnen Schritte können im Einzelfall auch teilweise eine andere Gestalt annehmen:

  1. Klärungen (alle) : z. B.: Wer bringt seinen Praxisfall ein? Fallgebende Person. Wieviel Zeit steht zur Verfügung?
  2. Fallbeschreibung (durch die fallgebende Person): Schilderung der Aufgabenstellung, Zielsetzung, Situation, Maßnahmen, Reaktionen, eigene Verhaltensweisen, Auswirkungen
  3. Anliegen für die Fallberatung (der fallgebenden Person): Wofür will ich mir von euch Beratung holen?
  4. Fragen zum besseren inhaltlichen Verständnis (BeraterInnen, Antworten der fallgebenden Person); keine Bewertungen, Interpretationen oder Lösungsvorschläge
  5. Brainstorming (BeraterInnen, fallgebende Person hört nur zu)
    • Rundgang: Identifikation mit dem/den Gegenüber/n der fallgebenden Person in ihrem Fall: "Ich als ... empfinde, denke, wünsche mir ..."; "Mir fällt auf, dass ..."; „Mir geht es dabei ... ” usw.
    • Rundgang: Identifikation mit der fallgebenden Person selbst: "Ich als ... empfinde, denke, wünsche mir ..."; „Mir geht es dabei ... ”
  6. Reaktion der fallgebenden Person
    1. Was ist mir vertraut ..., fremd?
    2. Stimmt mein Beratungsanliegen (siehe Ziffer 3) noch? - Evtl. umformulieren
  7. Lösungsvorschläge entwickeln (BeraterInnen, fallgebende Person hört nur zu) z. B. im Brainstorming (nur BeraterInnen, fallgebende Person hört zu oder verlässt den Raum und entwickelt allein Lösungsvorschläge)
  8. Lösungsvorschläge auswählen (fallgebende Person): die fallgebende Person wählt Lösungsvorschläge aus und entwickelt daraus einen persönlichen Maßnahmenplan.
  9. Ggf. Überprüfung einzelner Schritte/Maßnahmen im Rollenspiel ausprobieren

Um wirklich zu einer neuen Sichtweise auf die Fall-Situation zu gelangen, ist es wichtig, dass in Schritt 4 (Fragen zum Verständnis) keine Fragen gestellt und beantwortet werden, die bereits einen Lösungsvorschlag beinhalten. An dieser Stelle des Beratungsprozesses sehen die BeraterInnen die Situation noch viel zu sehr aus der Perspektive der fallgebenden Person. Frühestens nach dem Brainstorming können Lösungen gesammelt werden. Und es ist vorteilhaft, wenn die fallgebende Person wirklich nur dann eingreift, wenn er oder sie „dran“ ist. In den Schritten 3 und 7 soll sie nur zuhören und erst am Schluss das Gehörte kommentieren. Sonst geht der Gruppe ein Teil ihrer Kreativität verloren. Schließlich dürfen sie ja beim Brainstorming richtig drauflos „spinnen“ und sich gegenseitig stimulieren mit Ideen hinsichtlich der Problem-Ursachen und -Folgen. Und später bei den Lösungen gilt Entsprechendes.

Ein/e geübte/r SupervisorIn oder Coach kann anfangs behilflich sein, die Moderationsrolle zu übernehmen. Auf lange Sicht hin aber baut die Methode auf die Selbsthilfe der kollegialen Gruppe. Mit einiger Übung können alle einmal die Moderationsrolle einnehmen.

Quellen
Zum Autor

Timm Klotz arbeitet im Freundeskreis Asyl Radolfzell e. V. mit (www.fk-asyl-radolfzell.org/de). Er ist selbständiger Supervisor und Coach (DGSv) in seiner Firma CONSID-Beratung Klotz & Partner in Radolfzell (www.consid.org).