Fluchtursachen

Einleitung

Vorherrschende politische und mediale Diskurse über Flucht tendieren dazu, Menschen, die ihre Heimatländer verlassen, gemeinhin in nur zwei Kategorien einzuteilen: In „gute“ oder „richtige“ Geflüchtete, die „legitimerweise“ vor Verfolgung und gewaltsamen Konflikten fliehen, und in „Wirtschaftsflüchtlinge“, die lediglich aus ökonomischer Misere migrieren. Letzteren wird vorgeworfen das Asylverfahren zu missbrauchen, um von dem deutschen oder europäischen Sozialsystem profitieren zu können.

Fluchtursachen sind in der Realität aber viel komplexer gestaltet und lassen sich daher nicht in diese binäre Logik einordnen. In den allermeisten Fällen flüchten Menschen nicht allein auf Grund einer bestimmten Ursache, vielmehr veranlasst erst das Zusammenwirken mehrerer Gründe Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Darüber hinaus ist die unterschiedliche Bewertung von Fluchtursachen aus menschenrechtlicher Perspektive nicht sinnvoll: Es ist irrelevant, ob die Flucht auf einer politischen Verfolgung oder der Bedrohung durch Hungertod beruht. Beide der genannten Fluchtursachen begründen schwere Menschenrechtsverletzungen in Anlehnung an die Menschenrechtskonventionen von 1966, den „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ (Art. 26) und den „Internationalen Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte“ (Art. 11).

Die nachfolgenden Artikel geben einen kurzen Überblick über unterschiedliche Fluchtgründe und zeigen deren komplexes Zusammenwirken auf.

Krieg und Gewalt

Krieg ist weltweit die zentrale Fluchtursache. In fast jedem siebten Staat herrscht entweder Krieg oder eine bewaffnete Auseinandersetzung (medico international 2021). Gut 24 Millionen Menschen waren 2020 auf der Flucht vor gewaltsamen Auseinandersetzungen. Auch rund 70% der Menschen, die in Deutschland nach Asyl suchen, kommen aus akuten Krisen- und Kriegsgebieten (UNHCR 2021). Vor allem Konflikte in Ländern des Nahen Ostens, wie zum Beispiel im Yemen und Syrien, und in Teilen Sub-Sahara Afrikas entziehen unzähligen Menschen ihre Lebensgrundlage. Jeder kriegerische Konflikt führt zu existenziellen Bedrohungen für die Bevölkerung. Oftmals ist nicht nur das eigene Leben in Gefahr, vielmehr führt Krieg auch zu extremer Armut, zu Versorgungsengpässen in Krankenhäusern und im Lebensmittelsektor, zu Zerstörung von existenzieller Infrastruktur, zum Verlust von identitätsstiftender Kultur sowie zum Zerfall demokratischer Strukturen. Dieser Liste lassen sich noch unzählige weitere direkte Auswirkungen von Kriegen hinzufügen.

Das wird auch am Beispiel Venezuelas deutlich: Rund 4 Millionen Venezolaner*innen sind Stand Ende 2020 außerhalb ihres Landes auf der Flucht. Dazu kommen noch 1,4 Millionen, die innerhalb Venezuelas vor dem Regime von Machthaber Maduro flüchten. Politisch Andersdenkende werden durch Plünderungen, Lynchaktionen, Festnahmen, Folter sowie außergerichtliche Hinrichtungen bedroht. Hinzu kommt eine dramatische Wirtschaftskrise, weshalb viele ihre Existenz und die der Familie im Land nicht mehr sichern können. Laut Prognosen des UNHCR und der IOM könnte die Zahl der Menschen, die Venezuela verlassen, noch im Jahr 2021 auf 8,13 Millionen Menschen steigen (bpb 2021: Innerstaatliche Konflikte Venezuela).

An den bestehenden Konflikten sind Deutschland und andere Nationen des Globalen Nordens nicht unbeteiligt: Durch Waffenhandel tragen diese Staaten eine entscheidende Mitverantwortung für die gewaltsame Eskalation dieser Konflikte und den Tod tausender Zivilist*innen. Auch internationale Interventionen, die meist im Namen der Humanität und Friedenbildung geführt werden, tragen regelmäßig zu einer weiteren Eskalation der Lage vor Ort bei.

Nützliche Links zum Thema:

Diskriminierung und Verfolgung

„Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.“

Diese Zeilen findet man im zweiten Artikel der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen. Die hier festgeschriebenen Ideale spiegeln sich in der Realität jedoch nicht vollumfänglich wider. Nach wie vor erleben Menschen weltweit Einschränkungen in ihren Freiheiten sowie Diskriminierung und Verfolgung aufgrund ihrer Religion, ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit, politischen Gesinnung, sexuellen Orientierung, ihres gesellschaftlichen Status, ihrer Klassen- oder Kastenzugehörigkeit.

Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind beispielsweise nach wie vor in 69 Staaten unter Strafe gestellt („State-Sponsered Homophobia Report 2020“). In mindestens 24 Staaten wurden 2020 queere Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität festgenommen (Amnesty International Report 20/21).  Menschen in diesen Staaten können also ihre Sexualität und damit einen Teil ihrer Identität nicht frei ausleben.  Diese Art von geschlechtsspezifischer Verfolgung fällt unter die Kategorie „Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe“ der Genfer Flüchtlingskonvention. Dazu zählen auch Genitalverstümmelung und Zwangssterilisierung. Geschlechtsspezifische Verfolgung ist generell schwieriger nachzuweisen, da sie häufig im familiären, nicht-öffentlichen Raum stattfindet.

Nach der Genfer Flüchtlingskonvention kann auch kumulative Diskriminierung einer Verfolgungshandlung gleichkommen. Darunter versteht man sich gegenseitig verstärkende Diskriminierungserfahrungen, die in unterschiedlichen Lebensbereichen auftreten und sich teilweise über mehrere Generationen verfestigt haben. Durch die Anerkennung kumulativer Diskriminierung als Verfolgungshandlung sollen Schutzmöglichkeiten für Minderheiten eröffnet werden, beispielsweise für Roma in den Westbalkanstaaten. Die Folgen von strukturellem Antiziganismus zeigen sich dort insbesondere auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt und im Schulwesen. Außerdem sind Roma im Alltag immer wieder Anfeindungen aus der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. Trotz dieser Situation werden Asylanträge in Deutschland in mehr als 99 % der Fälle als offensichtlich unbegründet abgelehnt.

 

Klimawandel und Umweltkatastrophen als Fluchtursache

Die Folgen des Klimawandels werden zu Fluchtursachen, die in ihrer Bedeutung kontinuierlich zunehmen. Naturkatastrophen wie Tsunamis, der fortwährend steigende Meeresspiegel, die Degradation von Böden und Wassermangel führen zu Ressourcenknappheit oder Zerstörung von Lebensräumen und zwingen Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Dies trifft Menschen in Ländern des Globalen Südens besonders stark. Wiederum befinden sich dort die ärmsten Teile der Bevölkerung in einer äußerst vulnerablen Situation: Zum einen bewohnen sie meist bereits ohnehin prekäre (weil kostengünstige) Landstriche, zum anderen sind Ressourcen (in jeglicher Form) und somit die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit begrenzt.

Bisher verfügen die meisten Menschen, die vor den Folgen des Klimawandels oder Umweltkatastrophen flüchten, weder über einen juristischen Schutzstatus noch über im Speziellen zuständige Institutionen. Das ist dramatisch, denn 2020 mussten etwa 30 Millionen Menschen im Zusammenhang mit Naturkatastrophen ihre Heimatorte (zumindest zeitweilig) verlassen (IDMC: Internal Displacement 2020). Ursächlich waren extreme Stürme, Überschwemmungen, Waldbrände, Erdrutsche, aber auch extreme Temperaturen und anhaltende Dürren. Dabei sind Menschen, die infolge von dauerhaften oder schleichenden Klimaveränderungen flüchten, in den Schätzungen noch gar nicht berücksichtigt. Dies lässt sich allem voran damit begründen, dass die Datenlage gerade in den besonders betroffenen Regionen äußerst lückenhaft ist. Außerdem lässt sich oft nicht nachvollziehen, welche konkreten Fluchtgründe, wie beispielsweise Kriege, Armut oder Lebensmittelknappheit, ursprünglich auf den Klimawandel zurückzuführen sind.

Flucht und Globalisierung

Die Globalisierung verschärft die weltweiten materiellen und sozialen Ungleichheiten zwischen Staaten des Globalen Nordens und Südens, und macht Ungleichheiten innerhalb einzelner Länder erkennbar. Zwar hat der internationale Weltmarkt auch in den Entwicklungs- und Schwellenländern Anstrengungen unternommen, Wohlstand zu schaffen – eliminiert wurden die Ungleichheiten dadurch jedoch nicht. Eher im Gegenteil: Während sich die Gesamtzahl der Milliardär*innen seit 2008 verdoppelte, lebt über die Hälfte der Menschen von weniger als 5,5 Dollar am Tag (Oxfam 2021). 5,5 Dollar wird momentan als Armutsgrenze festgelegt – in einer solchen Situation wird die Flucht eines Familienmitglieds in ein Land des Globalen Nordens unter Umständen zum Überlebensanker der gesamten Familie.

Um sich vor den ungewollten, aber selbst miterzeugten Konsequenzen der Globalisierung zu schützen, gehen die Staaten des Globalen Nordens zu einer Abschottungspolitik über: Die zahlreichen Aktionspläne und Programme der EU-Staaten beispielsweise zielen darauf ab, Geflüchtete möglichst noch vor Erreichen der europäischen Außengrenzen aufzuhalten. Vorgelagerte Grenzkontrollen machen es schwieriger, das Herkunftsland zu verlassen und durch Anrainerstaaten zu reisen. So müssen immer gefährlichere Fluchtwege gewählt werden. Darüber hinaus verschärft die europäische Abschottungspolitik Konflikte in den Herkunfts- oder Transitländern, wenn Personen dort gegen ihren Willen festgehalten werden.

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie

Noch ist nicht abzuschätzen, wie sich die Corona-Krise langfristig auf das Thema Flucht auswirken wird. Die Zahl der Asylanträge ist allerdings im Jahr 2020 in fast allen Teilen der Welt deutlich gesunken. Laut UNHCR lag die Anzahl der tatsächlichen Ankünfte von Geflüchteten weltweit um ca. 1,5 Millionen niedriger, als es ohne Covid-19 zu erwarten gewesen wäre.

Das bedeutet allerdings nicht, dass weniger Menschen fliehen mussten (Siehe Zahlen im Kapitel „Krieg und Gewalt“). Vielmehr sind unzählige Flüchtende aufgrund von geschlossenen Staatsgrenzen oder wegfallenden Transportmöglichkeiten in Grenzregionen gestrandet. Sie wurden in keiner Statistik erfasst. Außerdem waren viele Institutionen, in denen normalerweise Asylanträge gestellt werden können, aufgrund von Corona-Maßnahmen nicht zugänglich (UNHCR 2021).

Die Corona-Pandemie verschärft offensichtlich die Lage von Menschen, die in extremer Armut leben.  Ihre Anzahl wird schätzungsweise bis Ende 2021 auf 745 Millionen ansteigen – das wäre ein Zuwachs von 100 Millionen seit Beginn der Pandemie (OXFAM 2021). Das ist dramatisch und bedeutet auch, dass sich die tödliche Gefahr der Corona-Pandemie nicht allein auf die direkten Folgen einer Infektion beschränkt, sondern auch mittelbar lebensbedrohliche Folgen mit sich bringt.

Während die Corona-Krise also mehr Menschen dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen, um zu überleben, werden die Möglichkeiten das zu tun durch die Pandemie gleichzeitig stark eingeschränkt (MMC 2021).